Norm und Realität in der Überlieferung des frühen Mittelalters

Norm und Realität in der Überlieferung des frühen Mittelalters

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
30.03.2015 -
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Von
Julian Führer, Historisches Seminar, Universität Zürich

In den Quellen der Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter begegnen immer wieder Schrifterfordernisse, jedoch ist nur sehr selten die konkrete Anwendung dieser Normen in der heute noch bestehenden oder erfassbaren Überlieferung nachzuweisen. Die am Deutschen Historischen Institut Paris durchgeführte table ronde untersuchte dieses Problem methodisch und fragte, ob diese konkrete Anwendung überhaupt stattgefunden hat und wie der dann zwingend zu postulierende fast vollständige Überlieferungsverlust zu erklären wäre.

In der Einführung ins Tagungsthema betonte JULIAN FÜHRER (Paris / Zürich), dass das Begriffspaar von Norm und Realität in diesem Zusammenhang nicht als Polarität gedacht werden dürfe. Ebenso wie die postulierte Norm Variationen in Raum und Zeit unterlag, sei dies auch für die Realität der einstmals vorhandenen Schriftproduktion zu erwarten. Auch im Idealfall der umfassenden Wirksamkeit postulierter Normen sei nicht von einer Uniformität der Anwendung auszugehen. Wenn die Realität der Textproduktion erkennbar von der formulierten Norm abweiche, sei dies nicht mit negativen Kategorien wie Verfall oder Desintegration zu erfassen. Dies gelte umso mehr angesichts der noch vorhandenen, sehr schmalen Überlieferung aus dem frühen Mittelalter. Norm und Realität seien nicht als Gegensätze anzusprechen, sondern als zwei Betrachtungsweisen des Problems des spätantiken und frühmittelalterlichen Schriftgebrauchs. Frühere Forschungen hätten die Quantität der Schriftproduktion mitunter mit dem Bildungsniveau gemäß dem spätantiken Kanon in Zusammenhang gebracht. Da jedoch nicht jedes Textzeugnis mit literarischen Maßstäben zu messen sei, müsse verstärkt nach dem gefragt werden, was für spätere Jahrhunderte unter dem Begriff der ‚pragmatischen Schriftlichkeit‘ untersucht wurde.

BRUNO DUMÉZIL (Paris) widmete sich der Erstellung und Überlieferung frühmittelalterlicher Briefsammlungen. Briefsammlungen stellten in der Zeit vom Ende des 4. bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts eine recht umfangreiche Quellengruppe dar. Lange Zeit wurden sie als Zusammenstellung von Einzelstücken angesehen und wenig beachtet; heute hingegen werde im Lichte neuerer Forschungen ihr Wert als Geschichtsquelle, aber auch als Geschichtszeuge im Sinne eines Überrests betont. Einige Sammlungen wurden vom Briefschreiber selbst zusammengestellt, der sie nutzte, um vorteilhafte Beziehungen zu betonen (oder zu erfinden), mitunter auch mit dem Ziel, ein gesellschaftliches oder politisches Programm zu verfolgen. Dies sei vor allem bei Sidonius Apollinaris oder Venantius Fortunatus in der ersten Fassung der Carmina der Fall. Andere Sammlungen wurden nach dem Tod des Autors zusammengestellt und seien ein Zeugnis für das Prestige und die Autorität seiner Person. Bei der Sammlung der Stücke in diesem Fall, bei der man nicht von der Existenz von Archiven ausgehen könne, wurde oft in Eile ausgewählt, so dass im Einzelfall Briefe aufgenommen wurden, die ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen waren, wie man es bei den Briefsammlungen des Avitus von Vienne und des Ruricius von Limoges erkennen kann. Einige Sammlungen wie die Epistulae austrasicae griffen teilweise auf jahrhundertealtes Material zurück, andere wie die Epistolae merovingicae seien erst von modernen Editoren zu einem Corpus versammelt worden. Die Überlieferung frühmittelalterlicher Briefsammlungen hatte Hürden zu nehmen, denn das enthaltene Material war oft nicht über die Lebensdauer der agierenden Personen hinaus von Relevanz; obendrein wurden die verhandelten Inhalte mit zunehmendem Zeitabstand zunehmend unverständlicher, und dies gelte auch für die genutzte Schriftart.

HENDRIK HESS (Bonn) konnte mit seiner Spezialstudie zu den Briefen des Sidonius Apollinaris an die vorangegangenen Überlegungen anknüpfen. Es wurden einige Betrachtungen zu den Umständen und Notwendigkeiten (den „Normen“) angestellt, die Gründe für die Kompilation und Veröffentlichung der Sammlungen gewesen sein könnten. Dabei wurde außerdem die Funktion der Briefsammlungen für die römische Aristokratie anhand von ausgewählten Briefausschnitten illustriert. An ihnen ließ sich zeigen, dass Literaturproduktion und -rezeption maßgebliche Elemente des aristokratischen Selbstverständnisses waren, gerade vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Diese unmittelbare identitätsstiftende Funktion der Briefsammlungen stehe dabei im Gegensatz zu späteren Nutzungsformen etwa im Rahmen didaktischer Kontexte.

Mit den im Mittelalter zahlreichen Bestätigungen von Herrscherdiplomen beschäftigte sich MARK MERSIOWSKY (Stuttgart). Dieser Befund habe seit Mabillons Zeiten die Forschung immer wieder erstaunt und die Frage aufgeworfen, ob die Bestätigung als Aktualisierung einer früheren Rechtsverleihung auf die Nichtexistenz von Archiven schließen lasse. Dagegen spreche allerdings, dass in Chartularen gerne Serien von Bestätigungen desselben Rechtsakts aneinandergereiht wurden. Seit der ersten noch urkundlich erhaltenen Bestätigung des Merowingerkönigs Chlodwig II., der einen Rechtsakt Dagoberts I. bekräftigte, wurde die Erneuerung einer früheren herrscherlichen Rechtshandlung als königliche, später (Lothar I.) kaiserliche Gewohnheit angesehen, die besonders zu Beginn einer Regierung dazu diente, herrscherliche Gunsterweise zu bekräftigen und gegebenenfalls zu aktualisieren. Bei der Untersuchung der Überlieferung sei in Rechnung zu stellen, dass für ein Immunitätsprivileg eine höhere Erhaltungswahrscheinlichkeit bestehe als für ein schlichtes Grundstücksgeschäft, das vielleicht durch spätere Transaktionen ohnehin nicht mehr relevant schien.

Trotz der überaus reichen Bestände des Klosters St. Gallen an Büchern und Urkunden sind auch an diesem Ort erhebliche Verluste eingetreten. PETER ERHART (St. Gallen) zeigte, dass sich dort erstaunlicherweise zahlreiche Urkunden erhalten haben, die auf den ersten Blick keinerlei Berührungspunkte mit dem Kloster aufweisen. Ein Dossier eines Schultheißen aus dem benachbarten Rätien wurde etwa noch im 9. Jahrhundert vom Klosterarchiv absorbiert. Es überlebte, obwohl es sich nicht in das nach geographischen Prinzipien (capitula) geordnete Archiv einfügte. Dieses System verhinderte vermutlich auch die Anlage eines Chartulars oder Traditionsbuches, aber nicht den Untergang von drei Vierteln der urkundlichen Überlieferung, über dessen Etappen seit dem frühen Mittelalter wir in St. Gallen besser informiert seien als anderswo, so dass sogar quantitative Aussagen möglich seien. Der Vergleich zwischen Bibliothekskatalogen und erhaltenen Handschriften lehre uns, dass es auch um die Bibliotheken nicht besser bestellt sei. Dennoch waren die Überlieferungs-Chancen in geistlichen Archiven und Bibliotheken ungleich höher als in der weltlichen Sphäre.

Den langjährigen Streit um die Fortexistenz oder das Aufhören einer kommunalen Verwaltungsschriftlichkeit in den Gesta municipalia behandelte JOSIANE BARBIER (Paris). Im Lichte ihrer neuen Forschungen seien die Gesta municipalia als von den städtischen Kurien geführte Register anzusehen, die bei der Katasterführung und der Auslösung von Steuerzahlungen relevant waren. Die effektive Anwendung der im Codex Theodosianus so formulierten Norm sei allerdings nur anzunehmen, wenn man die Gültigkeit dieser Rechtskodifikation im fränkischen, auch nördlichen Gallien annehme. Die vereinzelten Nachrichten darüber seien grundsätzlich als glaubhaft einzustufen. Für das Überdauern der Kurien in gallischen Civitates gebe es insgesamt etwa 40 Zeugnisse aus 15 verschiedenen Orten, von denen Clermont der südlichste sei. Eine systematische Registrierung privatrechtlicher Transaktionen sei auch in der Rechtsnorm nicht gefordert, da hierfür ein Mindestwert von 200 solidi postuliert wurde. Die Benennung von Aufbewahrungsinstanzen außerhalb der Kurien sei wiederum ein Indiz für das Verschwinden der Gesta. Bei Chartularabschriften stelle sich die Frage, ob die Abschriften von den Originalen beim Empfänger oder von einem bei den Gesta hinterlegten Exemplar genommen wurden. Inzwischen wüssten wir durch die fortschreitende Arbeit an den Chartae latinae antiquiores, dass viele bislang als Original angesehene Einzelstücke vielmehr als zeitgleiche Abschriften zum Verbleib bei einer der beteiligten Parteien anzusehen seien. Da bei den Gesta selbst in Gallien heute letztlich von einem Totalverlust ausgegangen werden müsse, seien erhaltene Stücke immer als Ausnahme von der für die Aufbewahrung festgelegten Regel anzusehen. Der endgültige Bruch hin zu einer individuellen Aufbewahrung z.B. in Klosterarchiven sei im 8. Jahrhundert anzusetzen, als die lokalen Eliten unter dem Einfluss der neuen Herrschaft der Karolinger ausgewechselt wurden.

GERALD SCHWEDLER (Zürich) erwies kirchenrechtliche Normen als Geschichte von Siegern und illustrierte dies am Beispiel Tassilos von Bayern. Die gallischen und fränkischen Bischöfe pflegten ein besonderes Verhältnis zur Schriftlichkeit. Die Bischöfe selbst wirkten zwischen tradierten Strukturen der Schriftlichkeit der römischen Antike und den Erfordernissen der neuen Zeit, bedingt durch Völkerwanderung und fränkische Herrschaft. Die Konzilien als kirchenrechtlich normbildende Institution basierten auf normativer Schriftproduktion und zogen so auch normative Schriftproduktion nach sich. Im Zentrum des Vortrags stand die mehrfach geschehene Manipulation der Autorisierung durch den einberufenden Monarchen, der später in Ungnade fiel. Zuerst ging es um das Konzil von Agde 506, das durch Alarich II. einberufen wurde und dessen Name, wie bereits Bruno Saint-Sorny zeigte, in den Abschriften unterschiedlich normbildend eingesetzt wurde. Als Kontrast wurde die von Tassilo III. in Neuching im Jahr 770 (?) einberufene Versammlung behandelt. Hervorzuheben ist, dass Tassilo selbst 794 durch ein kirchenrechtlich relevantes, sogar ökumenisches Konzil für abgesetzt erklärt wurde, wofür eine im Kirchenrecht nicht vorgesehene Regelung erlassen wurde, dass über diesen Akt eine Dreifachausfertigung erstellt werden sollte (tres breves ex hoc capitulo).

Priester, die außerhalb ihrer angestammten Diözese aktiv werden wollten, mussten bereits gemäß früher kirchlicher Gesetzgebung eine besondere Genehmigung besitzen. CHARLES MÉRIAUX (Lille) demonstrierte, dass hierfür ein Schriftstück erforderlich war, das unter verschiedenen Bezeichnungen immer wieder in Konzilsakten, Kapitularien und anderen Sammlungen wie bei Regino begegnet. Beispiele für solche Empfehlungsschreiben finden sich vor allem in Formelsammlungen. Zur Merowingerzeit sei der Gebrauch solcher Schreiben für reisende Kleriker bezeugt. Im 9. Jahrhundert vervielfachten sich die Pflichten für „fremde“ Priester, wenn sie sich in einem anderen Bistum niederließen, ebenso solche Beglaubigungsschreiben vorzuweisen und aufzubewahren wie ihre Freilassungsurkunde, wenn sie von unfreier Herkunft waren. Da die fraglichen Schriftstücke an Einzelpersonen gebunden und über deren Lebensspanne hinaus ohne Bedeutung waren, sei die Zahl von 27 unter verschiedenen Bedingungen erhalten gebliebenen Exemplaren als bemerkenswert hoch einzuschätzen. Die Aufbewahrung fand in diesen Fällen wohl durch den ausstellenden Bischof statt. Die Mobilität dieser Priester sei allerdings regional nicht zu hoch anzusetzen; meist handele es sich um Aktivitäten in Nachbarorten, die einer anderen Diözese zugehörig waren.

Schließlich bot DONATELLA NEBBIAI (Paris) einen Überblick über Beispiele von Autographie. Aus dem Frühmittelalter seien uns immer wieder Zeugnisse darüber erhalten, wie Einzelpersonen auf der Suche nach bestimmten Texten und Büchern vorgingen. Auch wenn manche Bücher nicht unbedingt geschrieben wurden, um auch gelesen zu werden, entwickelten viele Texte erstaunliche Wirksamkeit. Geschichte wurde neu nach dem Vorbild der Hagiographie und der Kirchengeschichten konstruiert. Adhemar von Chabannes, ohnehin ein für den Umgang mit Schriftkultur sehr ergiebiger Autor, äußerte sich in der Epistola de apostolatu sancti Martialis sehr dezidiert zum Bildungsniveau in Limousin und Aquitanien. Wie so oft bei diesem Autor seien die Aussagen jedoch kaum ohne weiteres vertrauenswürdig. Mit dem Begriff der „Autobibliographie“ umschrieb die Rednerin Selbstaussagen der Autoren über das, was von ihnen gelesen, gesehen und geschrieben wurde. RENATE SCHIPKE (Berlin), Autorin eines Buches, das wesentliche Aspekte der materiellen Buchkultur der Spätantike ausführlich behandelt1, hatte der Runde zusätzlich einige Überlegungen zur Verfügung gestellt, in denen sie die mehrfache Réécriture in Spätantike und Karolingerzeit unterstrich, die mit der Umstellung von Rolle auf Codex und mit den vielfältigen karolingerzeitlichen Neuerungen einherging. Angesichts der erheblichen Anstrengungen, die die Herstellung eines Codex erforderte (Zugriff auf eine erhebliche Anzahl Tierhäute, eventuell auf eine abzuschreibende Vorlage, auf Schreiber usw.), könne die dahinterstehende Investition kaum genug betont werden. Gleichzeitig sei der Umstand, dass im Umfeld einer Person Bücher hergestellt wurden, nicht mit einer allgemeinen positiven Einstellung zu Geschriebenem gleichzusetzen, wie sie am Beispiel des Hieronymus zeigte.

Die table ronde zeichnete sich durch konzentrierte Arbeit und intensive Diskussionen aus. Als wesentliche Ergebnisse hielt Julian Führer in seinem Schlusswort fest, dass die Erhaltung bei vielen der behandelten Textsorten mehr als allgemein angenommen als die Ausnahme anzusehen sei. Im Umgang mit Überresten frühmittelalterlicher Schriftkultur und bei der Diskussion von Norm und Realität der Textproduktion und Texterhaltung sei eher der Ausnahmefall der Überlieferung als die Regel des alsbald eintretenden Textverlustes erklärungsbedürftig. Auch Schriftstücke hätten ihr Verfallsdatum, was bei der Diskussion von Überlieferungs- und Verlustszenarien ebenfalls zu beachten sei. Die Kontinuität über vermeintliche Epochengrenzen hinweg wurde in verschiedenen Beiträgen betont. Auch regionale Grenzen oder Brüche sollten mit Vorsicht betrachtet werden. Wie die Beiträge von Mark Mersiowsky und Josiane Barbier gezeigt hätten, sei die Annahme eines administrativ weiter römisch funktionierenden Südgallien und eines eher ‚barbarischen‘ Nordgallien auch im Hinblick auf die Schriftproduktion wohl nicht haltbar. Norm und Realität der Schriftproduktion seien keine Gegensätze; für weitere Forschungen sei noch breiter Raum.

Konferenzübersicht:

Julian FÜHRER (Zürich)
Einführung in das Tagungsthema

Bruno DUMÉZIL (Paris)
Constitution et transmission des collections épistolaires des Ve – VIIe siècles

Hendrik HESS (Bonn)
…qui universa quae ille conscripsit non tam de codicis membrana quam de cordis potes pagina proferre. Referenzen auf Schriftgut in gallischen Briefsammlungen der Spätantike und des Frühmittelalters und ihre Funktion

Mark MERSIOWSKY (Stuttgart)
Die kurze Dauer der Ewigkeit. Bestätigungen von Herrscherdiplomen in der Merowinger- und Karolingerzeit

Peter ERHART (St. Gallen)
Haec scriptio in monasterio contineatur. Überlieferungs-Chancen von Urkunden in Alemannien und Rätien

Josiane BARBIER (Paris)
Les mentions de gesta municipalia dans les actes gaulois des VIe-IXe siècles, traces d'un écrit municipal?

Gerald SCHWEDLER (Zürich)
tres breves ex hoc capitulo uno tenore conscriptos – Vergessen und Autorität von Schrift auf gallischen und fränkischen Konzilien

Charles MÉRIAUX (Lille)
Ut non alterius ecclesiae ordinatus in nostra parrochia ministrare sine formata audeat. Lettres de recommandation et cartae libertatis dans les diocèses carolingiens : normes et réalité

Donatella NEBBIAI (Paris)
Bibliothèques, autographie, autobiographie, IXe – XIe s.

Renate SCHIPKE (Berlin)
Norm und Überlieferungsrealität aus paläographischer Sicht zwischen 400 und 800

Julian FÜHRER (Zürich)
Conclusions

Anmerkung:
1 Renate Schipke, Das Buch in der Spätantike, Wiesbaden 2013.


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